Amira

Mohamed Diab | 2021 | 96 Min. | AR/de
04.04.2024 | Kulturbetrieb Royal, Bahnhofstrasse 39, 5400 Baden | 20.00 Uhr

Bei «Amira» handelt es sich um eine Geschichte, die sich vor dem Hintergrund von In-vitro-Fertilisationen palästinensischer Frauen mit geschmuggelten Spermien inhaftierter Palästinenser aus israelischen Gefängnissen entwickelt. Als die Authentizität der Spermien und damit die Vaterschaft der jeweiligen Kinder in Frage gestellt wird, nimmt das Drama seinen Lauf. Der schiere Gedanken daran, dass Vaterschaften von In-vitro-Fertilisations-Häftlingskindern nicht einwandfrei geklärt sein könnten, sorgte wiederum dafür, dass die Skandalisierung des Films im realen Leben seinen Lauf nahm.

Der Palästinenser Nawar ist zu lebenslanger Haft in einem israelischen Gefängnis verurteilt. Verheiratet ist er mit Warda, die als Lehrerin arbeitet. Gemeinsam mit ihrer 17-jährigen Tochter Amira lebt sie im Westjordanland. Amira glaubt, die Tochter von Nawar zu sein, der allerdings schon mehr als 17 Jahre inhaftiert ist. Die Befruchtung von Warda soll durch In-vitro-Fertilisation (IVF) mit den Spermien Nawars erfolgt sein. Spermien, die durch einen israelischen Aufseher aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt wurden.

Während Nawar von der israelischen Justiz als Terrorist verurteilt wurde, gilt er im Westjordanland als Freiheitskämpfer und wird als Held verehrt. Dass es ihm trotz strenger Sicherheitsvorkehrungen gelang, zusammen mit Warda ein Kind zu zeugen, trägt zu seiner Verehrung bei. Auch Amira verehrt ihren Vater. Regelmässig besucht sie ihn im israelischen Gefängnis. Sie träumt davon, Fotografin zu werden und produziert täuschend echt erscheinende Familienfotos mit Bildbearbeitungsprogrammen. Bei ihren Gefängnisbesuchen bringt sie Nawar jeweils ein Bild mit, das die beiden als Urlaubsreisende vor dem Hintergrund bekannter Reiseziele zeigt. Obwohl sie nie in Freiheit zusammengelebt haben, besteht zwischen ihnen eine innige und liebevolle Beziehung.

Als Nawar Warda vorschlägt, ein zweites Kind zu zeugen, zögert sie zunächst. Der Altersabstand zum ersten Kind scheint beträchtlich. Amira wiederum kritisiert ihre Mutter und versucht sie davon zu überzeugen, dass Nawar ein zweites Kind verdient hätte. Schliesslich schmuggeln sie erneut Spermien aus dem israelischen Gefängnis. Bei der Untersuchung der Spermien wird allerdings festgestellt, dass Nawar unfruchtbar ist. Eine DNA-Analyse zeigt auf, dass Nawar nicht der Vater von Amira sein kann. Warda wird zunächst verdächtigt, Nawar betrogen zu haben und von ihren Verwandten bedrängt. Amiras Welt gerät ins Wanken. Schliesslich kommt ans Licht, dass der israelische Gefängnisaufseher, der bestochen wurde, um Nawars Spermien zu schmuggeln, seine eigenen Spermien ausgeliefert hat. Ein Israeli als biologischer Vater – damit gerät Amiras Leben vollends aus den Fugen.

Kurz nach seiner Veröffentlichung wurde «Amira» von den Familien palästinensischer Gefangener und von Hilfsorganisationen, die sich für sie einsetzen, scharf verurteilt. Zu den Kritikern gehörte auch die erste Ehefrau eines Gefangenen, die mithilfe geschmuggelten Spermas befruchtet wurde. Die Organisation der Angehörigen palästinensischer Gefangenen rief zum Protest gegen den Film auf. Der palästinensische Kulturminister Atef Abu Saif meinte, der Film beschmutze die Ehre der palästinensischen Häftlinge in israelischen Gefängnissen, ihr Heldentum und ihren grossen Kampf. Der palästinensische Legislativrat – das Parlament der palästinensischen Autonomiegebiete – verurteilte den Film ebenfalls und liess verlautbaren, dass der jordanische Film Teil des israelischen Kriegs gegen das palästinensische Volk sei. Infolge der Proteste wurde «Amira» von der königlichen Filmkommission Jordaniens aus dem Wettbewerb um die Academy Awards zurückgezogen.

Andererseits wurde «Amira» an diversen internationalen Filmfestivals gezeigt und mit Preisen ausgezeichnet, darunter der «Interfilm Award for Promoting Interreligious Dialogue». Der Regisseur, Mohamed Diab, versicherte, dass er sich keinesfalls über die palästinensischen IVF-Kinder lustig machen wollte. Er erklärte, dass er mit seinem Film die komplexe Lebensrealität palästinensischer Häftlinge und ihrer Familien abbilden wollte. Medienberichte über den Spermienschmuggel aus israelischen Gefängnissen hätten ihn dazu inspiriert. Der Austausch von «palästinensischem» mit «israelischem» Sperma sei frei erfunden. In der Realität könne das nicht vorkommen. Gleichzeitig forderte er seine Kritiker:innen auf, den Film bis zum Ende zu schauen und sich ein eigenes Bild zu formen. Er bot an, den Film in israelischen Gefängnissen vorzuführen und ihn gemeinsam mit inhaftierten Palästinensern zu diskutieren.

Die Debatten um «Amira» werden eingeführt durch Emanuel Schäublin. Er ist Ethnologe, Arabist und Senior Program Officer des Programmbereichs «Culture and Religion in Mediation (CARIM)» am Center for Security Studies der ETH Zürich. Für ihn steht bei der Diskussion um «Amira» die Frage nach den Möglichkeiten und Unmöglichkeiten einer würdevollen filmischen Repräsentation von Fortpflanzung und politischen Gefängnissen im Zentrum.

Der Film wird als Teilveranstaltung der Ringvorlesung «Fortpflanzung im Spannungsfeld von Medizin, Religion und Politik» der Kommission UZH-Interdisziplinär an der Universität Zürich gezeigt. Diese wird im Frühlingssemester 2024 durchgeführt durch die Nachwuchsforschungsgruppe «GRC Peer Group Religion and Politics» und den universitären Forschungsschwerpunkt «URPP Human Reproduction Reloaded H2R». (Das gesamte Programm der Ringvorlesung findet sich hier.)