DAU. Natasha

Ilja Chrschanowski / Jekaterina Oertel | 2020 | 145 Min. | RU/en
16.05.2024 | Kulturbetrieb Royal, Bahnhofstrasse 39, 5400 Baden | 20.00 Uhr

Eine irrwitzige Kunstperformance mit Laienschauspieler:innen, 210’000 Statist:innen und 700 Stunden Filmmaterial. Daraus haben Ilja Chrschanowski und Jekaterina Oertel mit «DAU. Natasha» einen Spielfilm gedreht, der an der Berlinale für Furore sorgte. Üble Produktionsbedingungen und Grenzüberschreibungen in Bezug auf Sex und Gewalt wurden dem Projekt vorgeworfen. Filmhistoriker Claus Löser meint hingegen, in der Entgrenzung und in der damit verbundenen Kritik am Sowjetsystem liege gerade die Kraft des Films. Er wird den Film am 16. Mai 2024 im «royalscandalcinema» einführen.

Das DAU-Filmprojekt wirkt in seinen Ausmassen grössenwahnsinnig. Gedreht wurde an verschiedenen Orten in Russland, der Ukraine, Deutschland, Grossbritannien und Dänemark. Hauptsächlich entstand der Film aber am «Institut» in Charkiw, eine Rekonstruktion des «Instituts für Physikalische Probleme der Sowjetischen Akademie der Wissenschaften», das so gross war wie ein Stadtquartier. In ihm wohnten von 2009 bis 2011 bis zu 400 Menschen. Einige Schauspieler:innen lebten dauerhaft im Institut und verkörperten ihre Rolle durchgängig – auch wenn keine Filmaufnahmen stattfanden. Die meisten von ihnen waren Laien. Sie wurden als Angehörige ihrer jeweiligen Berufsgruppe angeheuert. Forscher:innen forschten, Bäcker:innen betrieben eine Bäckerei, Journalist:innen produzierten eine Institutszeitung, Prostituierte gingen auf den Strich. Während der dreijährigen Produktionszeit sollen auch Kinder entstanden sein. Vorgeschriebene Szenen hat es anscheinend keine gegeben, dafür umso mehr Improvisation. Das Verwischen von Film und gelebtem Alltag gehörte zum Konzept dieser irrwitzigen Kunstperformance. Auch Kameramann Jürgen Jürges hat drei Jahre am Set gelebt. Zusammen mit seinem Team filmte er über 700 Stunden Material, analog auf 35mm-Film. Daraus wurden mehrere Spielfilme und Dokumentationen geschnitten. «DAU. Natasha» ist der erste veröffentlichte Spielfilm des Projekts. Er wurde im Februar 2020 an der Berlinale uraufgeführt.

Darin wird auf die Geschichte von Natasha und Olga fokussiert. Die beiden führen die Kantine des Instituts. Hier sitzen die Wissenschaftler:innen und das Verwaltungspersonal in den Pausen, diskutieren über ihre Forschung oder tauschen Banalitäten aus. Serviert werden Leckereien, die ausserhalb des hermetisch abgeschlossenen Instituts kaum verfügbar sind. Wodka und Sekt fliessen reichlich. Nach Geschäftsschluss wird in den Appartements weitergefeiert. Natasha und Olga sorgen für alkoholischen Nachschub. Als sich Natasha mit einem ausländischen Physiker einlässt, gerät sie in die Fänge des Geheimdiensts.

Als der Film an die Berlinale kam, sorgte er auf mehreren Ebenen für Empörung. Die deutsche Schauspielerin Hanna Schygulla etwa berichtete davon, dass sie sich weigerte, die Synchronstimme von Natasha zu übernehmen. Als Grund dafür nannte sie eine Verhörszene, in welcher Natasha von einem KGB-Folterer gezwungen wird, sich mit einer Glasflasche zu penetrieren. Der Laienschauspieler, welcher den KGB-Mann spielte, hatte anscheinend auch in seinem echten Leben als Geheimdienstmitarbeiter ähnlich geartete Verhöre durchgeführt. Anonyme Quellen berichteten generell von Machtmissbrauch und Belästigungen am Filmset. Die Abriegelung im Film spiegelte sich in einer Abriegelung des Filmsets. Eine Casterin sagte aus, sie seien von der Regie dazu angehalten worden, psychisch belastete Personen für das Projekt zu gewinnen. Die Regisseur:innen und Schauspieler:innen stellten das an einer Pressekonferenz in Abrede. Dass die Grenzen von historischem Reenactment, Filmproduktion und echtem Leben in DAU verwischten, war allerdings Absicht.

Die «taz» stellte den Film in Zusammenhang mit der #MeToo-Debatte und fragte ganz grundsätzlich: «[Chrschanowski] wollte keinen konventionellen Film machen, er wollte keine Schauspieler, sondern echtes Leben zeigen: echten Schmerz, echte Liebe, echten Sex. Und echte Gewalt – darf Kunst das? Und wo sind die Grenzen? […] Gegen echtes Putzen und echten Sex gibt es wenig einzuwenden. Nur: Wie ist es mit echtem Machtmissbrauch?»

Grund für Spekulationen lieferte auch die Finanzierung des Projekts. Drei Jahre Dreharbeiten, über 200’000 Mitarbeiter:innen und der Bau des wohl grössten Filmsets Europas müssen Unsummen an Geld verschlungen haben. Nachdem die öffentlichen Fördergelder aufgebraucht waren, seien private Förderer:innen eingesprungen, meinte Chrschanowski. Offenbar stand dahinter in erster Linie Sergei Adonjew, ein Oligarch, der auf undurchsichtige Art und Weise reich geworden ist. Watson beschrieb ihn als Kokain-Grossist und Putin-Protegé.

Eine Protektion durch das russische Kulturministerium lässt sich hingegen nicht erkennen. Dieses liess «DAU. Natasha» kurzerhand verbieten und warf dem Regisseur «Propagierung von Pornografie» vor, ein Straftatbestand, der mit einer Haftstrafe geahndet wird. Für Claus Löser zeigt sich hierin eine Reaktion auf das subversive Potenzial des Films. Er schrieb zu «DAU. Natasha»: «[D]er Film stellt nicht weniger dar als einen radikalen Befreiungsversuch von den Schatten der Vergangenheit. Ein Kraftakt, der den gegenwärtigen Restaurationsbestrebungen in Russland strikt entgegenläuft und ohne Schmerzen nicht zu haben ist. Die wirkliche Pornografie besteht in der offiziellen Verharmlosung der Diktatur. DAU stemmt sich dagegen.» Die grosse Stärke des Films, meint er, liege in der Entmythisierung der Sowjetzeit.

Claus Löser wird in den Film und seine Skandalisierung einführen. Er ist Filmhistoriker, Filmemacher und Filmkurator in Berlin. Unter dem Titel «Strategien der Verweigerung: Untersuchungen zum politisch-ästhetischen Gestus unangepasster filmischer Artikulation in der Spätphase der DDR» publizierte er zum subversiven Filmschaffen Ostdeutschlands. Er ist Gründer des Filmarchivs «ex.oriente.lux», das sich der Sammlung und Vermittlung des ostdeutschen Underground- und Experimentalfilms widmet. Seit 1990 kuratiert er das Filmprogramm der Berliner Brotfabrik, ein Mekka für Liebhaberinnen und Liebhaber des unkonventionellen Films.