Ruhe

Karl Saurer / Hannes Meier / Gerhard Camenzind | 1971 | 50 Min. | DE
03.10.2024 | Kulturbetrieb Royal, Bahnhofstrasse 39, 5400 Baden | 20.00 Uhr

Zu links für das Schweizer Fernsehen! Im Auftrag der SRG produzierten drei Regisseure 1971 einen aktivistischen Dokumentarfilm. Dabei verhandelten sie die grossen Themen der 68er-Bewegung als virtuose Gesellschaftskritik im Filmformat. Das Schweizer Fernsehen hatte damit offensichtlich Mühe. Es verzichtete auf eine Ausstrahlung und liess den Film kurzerhand im Archiv verschwinden. Auf Initiative von Elena Fischli ist «RUHE» seit 2023 in restaurierter Form zu sehen, am 3. Oktober 2024 auch im Kulturlokal Royal. Jakob Tanner, der Grandseigneur der Schweizer Geschichtsschreibung, führt in den Film und seine Entstehungszeit ein. Buchpräsentation von Fischlis Saurer-Buch im Anschluss an den Film.

Von Maos Kulturrevolution zu den Zürcher Globus-Krawallen: Gleich zu Beginn des Films wird klar, mit der Ruhe war es nach 1968 auch in der beschaulichen Schweiz vorbei. «RUHE» ist ein aktivistischer Dokumentarfilm, der die grossen Themen der 68er-Bewegung aufgreift. Kinderkrippen, Schule und Armee werden als Zwangsanstalten beschrieben, die der Indoktrination jener dienen, die sie durchlaufen. Kleinkinder, Schüler:innen und Rekruten sollen lernen, sich zu fügen und sich den herrschenden Verhältnissen anzupassen. Eine andere Sequenz greift die sexuelle Befreiung einerseits und die repressive Sexualmoral im christlich-konservativen Lager andererseits auf. Eine Gruppe römisch-katholischer Blauringmädchen schmeisst Bravo-Heftchen auf den Scheiterhaufen und verdammt die darin enthaltenen Nacktdarstellungen. Eine progressive Gruppe von Nachwuchswissenschaftler:innen und Studierenden setzt sich am Departement für Architektur an der ETH Zürich mit sozialem Wohnungsbau, knapper werdenden Ressourcen und neuen Formen des Wohnens auseinander. Auf politischen Druck hin, wird die Forschungsgruppe aufgelöst. Immobilienspekulation und Raumplanung werden kritisch hinterfragt. Die Hausbesetzerszene wird empathisch porträtiert. In der Lehrlingsgewerkschaft wird über Alternativen zur kapitalistischen Produktion reflektiert. Die Frauenbefreiungsbewegung fordert weibliche Selbstbestimmung und Gleichberechtigung in einer männerdominierten Gesellschaft. Nicht nur die Themensetzung, auch Kommentar, Montage und Ästhetik verfolgten eine links-aktivistische Linie.

Produziert wurde die unterhaltsame und pointierte Gesellschaftskritik im Filmformat unter dem damaligen Titel «Ruhe und Ordnung». Es handelte sich dabei um eine Auftragsarbeit des Schweizer Fernsehens. Die drei Filmemacher Karl Saurer, Hannes Meier und Gerhard Camenzind sollten gezielt Themen aufgreifen, die den Nerv der Zeit trafen. Die Dokumentation war schliesslich als Auftakt des neuen Sendeformats «Kehrseite» geplant, mit welcher die SRG 1971 ein junges Publikum zu erreichen suchte. Mit der politischen Stossrichtung des gelieferten Produkts wurde die Direktion des Schweizer Fernsehens allerdings nicht glücklich. Die gesellschaftspolitischen Themen der 68er-Bewegung wurden aus ihrer Perspektive zu empathisch aufgegriffen. Auf eine Ausstrahlung von «Ruhe und Ordnung» wurde verzichtet. Der Film verschwand in einem Archivschrank. Zusammen mit seinem Pilotfilm wurde auch das Projekt «Kehrseite» aus dem Programm gestrichen. Massgeblich für die Zensurmassnahme des Schweizer Fernsehens war die Angst vor politischem Druck, argumentiert Jakob Tanner. So hätten bürgerliche Gruppierungen das Ziel verfolgt, dem Fernsehpublikum «nur Rechtes» aufzutischen.

Saurer, Meier und Camenzind verurteilten das Vorgehen der SRG. Gemeinsam drehten sie den Folgefilm «Es drängen sich keine Massnahmen auf» (ein Zitat des SRG-Direktors), in welcher sie ihre Erfahrung mit dem Schweizer Fernsehen satirisch verarbeiteten. Darauf reagierte das Schweizer Fernsehen seinerseits mit Einschüchterungsversuchen und der Drohung, dass ihre öffentliche Kritik an den Entscheidungen der SRG-Direktion mit dem Ausbleiben künftiger Aufträge sanktioniert würde. So zumindest schilderte es Karl Saurer in seinem 1977 publizierten Aufsatz «Maulkorb und Selbstzensur beim Schweizer Fernsehen» für die Zeitschrift CINEMA.

Der Text ist auch im Sammelband «Filme für den kreativen Widerstand» enthalten, den Elena Fischli 2023 publizierte. Ihr ist es auch zu verdanken, dass der Film «RUHE» (nun unter verkürztem Titel) doch noch den Weg an die Öffentlichkeit gefunden hat und seit letztem Jahr in einer restaurierten Form zur Verfügung steht. Am 3. Oktober 2024 zeigt «royalscandalcinema» den Film im Kulturlokal Royal in Baden. Jakob Tanner, emeritierter Professor für Geschichte an der Universität Zürich, führt in den Film und seine Entstehungszeit ein. Im Anschluss an Referat und Film präsentiert Elena Fischli ihr Buch zu Karl Saurers Filmschaffen. Als Lehrstück über die Politisierung der SRG ist «RUHE» heute so aktuell wie vor 50 Jahren.

Jakob Tanner ist emeritierter Professor für Allgemeine und Schweizer Geschichte der neueren und neuesten Zeit am Historischen Seminar und an der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Universität Zürich. Er forscht und forschte zur Wissens- und Wissenschaftsgeschichte, zur Geschichte der Schweiz im europäischen Kontext, zur Wirtschafts-, Unternehmens- und Finanzgeschichte, zur Geschichte von Ernährung, Drogen und Psychiatrie. Mit der Eröffnung neuer Forschungsfelder wie auch durch seine pointierten Stellungnahmen als kritischer Intellektueller hat er die Schweizer Geschichtsschreibung seit den 1980er Jahren massgeblich geprägt – nicht zuletzt mit seiner «Geschichte der Schweiz im 20. Jahrhundert».