Alexei Utschitel | 2017 | 108 Min. | RU/de
07.03.2024 | Kulturbetrieb Royal, Bahnhofstrasse 39, 5400 Baden | 20.00 Uhr
Brennende Autos, massive politische Prozesse und religiöse Prozessionen: Ein Film um die Affäre zwischen Zar Nikolaus II. und der Primaballerina Matilda Kschessinskaja vor 130 Jahren führt im zeitgenössischen Russland zu Kontroversen um religiös-politische Geschichtsbilder.
Alexei Utschitels 2017 veröffentlichter Film «Matilda» lässt auf den ersten Blick keine grossen Kontroversen vermuten. Der Plot entspricht jener einer klassischen Romanze: Der Thronerbe Nikolaus verliebt sich in die weltberühmte Balletttänzerin Matilda Kschessinskaja. Neben der Affäre mit der Ballerina kommt es zur machtpolitischen Vernunftehe mit Prinzessin Alix von Hessen.
Allerdings handelt es sich bei Zar Nikolaus II. um eine Figur, die geschichtspolitisch stark aufgeladen ist. Als letzter russischer Zar – in den Wirren des Russischen Bürgerkriegs 1918 von sowjetischen Soldaten hingerichtet – ist er eine Symbolfigur geblieben und dient Monarchist:innen, Antikommunist:innen und Politiker:innen mit imperialen Ambitionen als Projektionsfläche. Der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland – jener Kirche, die während der Sowjetzeit im Exil aufgebaut wurde – galt Nikolaus II. nach seinem gewaltsamen Tod als Heiliger und Märtyrer. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde seine Verehrung auch in Russland kanonisiert. Im August 2000 wurde Nikolaus II. zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale – dem zentralen Gotteshaus der Russisch-Orthodoxen Kirche – heiliggesprochen. Ikonen mit seiner Darstellung finden sich in vielen russisch-orthodoxen Kirchen. Ein Film, welcher die aussereheliche Affäre von Nikolaus II. zum Thema macht und lasziv in Szene setzt, wurde von kirchlicher Seite nicht goutiert. Der Moskauer Patriarch, Kyrill I., rief dazu auf, den Film zu zensieren. Er warnte davor, dass der Film religiöse Gefühle verletzen werde und zu sozialer Unruhe anstachle. Wobei seine «Warnung vor Aufruhr» so formuliert war, dass sie den Protest gegen den Film wohl umso mehr anheizte.
Eine Hetzkampagne gegen den Film, seinen Regisseur Alexei Utschitel und den Hauptdarsteller Lars Eidinger setzte ein. Kinobesitzer:innen wurde mit Brandstiftung gedroht, sollten sie den Film ins Programm aufnehmen. Das Studio des Regisseurs wurde von einem Brandsatz getroffen. Autos gingen in Flammen auf. Die nationalreligiöse Gruppe «Christlicher Staat» – in Anlehnung an die Terrororganisation «Islamischer Staat» – bekannte sich zu den Anschlägen. Die rechtskonservative Politikerin Natalja Poklonskaja, rief zu politischen Demonstrationen auf. «Matilda» ist für sie Frevel durch und durch. Den Hauptdarsteller, Lars Eidinger, beschimpfte sie als schwulen Pornodarsteller und Satanisten. Gleichzeitig bemühte sie die Justiz mit mehr als 40 Eingaben bei der Staatsanwaltschaft. Die «Verletzung religiöser Gefühle» gilt in Russland als Straftatbestand.
Die Reaktion des russischen Staats war allerdings zwiespältig. «Matilda» wurde von der staatlichen Filmförderung unterstützt. Die Staatsanwaltschaft wies ein Verbot des Films ab, ebenso die Klagen gegen Regisseur und Schauspieler. Andererseits gingen die Ordnungskräfte kaum gegen die Proteste vor. Während die russische Polizei bekannt dafür ist, Demonstrationen niederzuknüppeln, liess sie die Gegner des Films zunächst gewähren. Auch gegen die Brandanschläge durch die Gruppe «Christlicher Staat» wurde kaum vorgegangen. Alexander Kalinin, der Chef der ultraorthodoxen Splittergruppe, wurde vorübergehend festgenommen, nach einem Verhör aber wieder freigelassen.
Die Proteste zeigten aber auch ohne staatliches Verbot Wirkung: Grosse Kinoketten verzichteten auf die Vorführung von «Matilda». Das Kosmos-Kino in Jekaterinenburg, das den Film zeigte wollte, wurde in Brand gesteckt. Der deutsche Hauptdarsteller Lars Eidinger blieb der Premiere in St. Petersburg aus Sicherheitsgründen fern. Die Werbekampagne im öffentlichen Raum lief nur spärlich.
Die politische Konstellation des Skandals um «Matilda» ist bemerkenswert: Die grösste Kritikerin des Films, Natalja Poklonskaja sitzt für die staatstragende Partei «Einiges Russland» im Parlament. Das russische Kulturministerium, das den Film förderte, wurde 2017 von Wladimir Medinski geleitet, einem Parteifreund von Poklonskaja. Er stellte sich gegen die Angriffe «Matilda» und unterstützte den Film nachdrücklich. Utschitel selbst stellte sich in der Vergangenheit immer wieder auf die Seite des Staats. Die Annexion der Krim legitimierte er – zusammen mit anderen Kulturschaffenden – im März 2014 mit religiös-nationalistischen Argumenten: «In den Tagen, in denen sich das Schicksal der Krim und unserer Landsleute entscheidet, können die Kulturschaffenden Russlands nicht gleichgültig und mit kaltem Herzen zusehen. […] Geschichte, Kultur und religiöse Wurzeln verbinden Russland auf ewig mit der Krim.» Die Oberhäupter der mehrheitlich muslimischen Republiken Tschetschenien und Dagestan beantragten beim Kulturministerium ein Verbot des Films für ihre Verwaltungsgebiete. Sie argumentierten – wie Poklonskaja – mit der «Verletzung religiöser Gefühle» und erklärten sich so solidarisch mit der russisch-orthodoxen Kirche. Das tschetschenische Republikoberhaupt Ramsan Kadyrow setzte sich damit – einmal mehr – als staatstreuer und nationalpatriotischer Russe in Szene. Die Skandalisierung des Films entzieht sich also klaren politischen Zugehörigkeiten. Viel mehr weist sie auf einen parteiinternen Kampf um die Deutungsmacht der russischen Vergangenheit hin.
Der Russlandkenner und Geschichtsprofessor Gleb Albert führt in den Film und seine Skandalisierung ein. Gleb Albert ist SNF-Assistenzprofessor für Geschichte an der Universität Luzern. Er promovierte an der Universität Bielefeld zu «Das Charisma der Weltrevolution: Revolutionärer Internationalismus in der frühen Sowjetgesellschaft 1917-1927», arbeitete an der Dokumentenedition zur Geschichte des Komintern und ist Mitherausgeber des International Newsletter of Communist Studies. Er war Mitglied der DFG-Forschungsgruppe «Medien und Mimesis» und habilitierte an der Universität Zürich zu Softwarepiraterie. An der Universität Luzern leitet er das SNSF Starting Grant Projekt «The Microcomputer as Medium of Transformation in Europe 1980-2000».