Alexander Askoldow | 1967 | 110 Min. | RU/de
06.03.2025 | Kulturbetrieb Royal, Bahnhofstrasse 39, 5400 Baden | 20.00 Uhr
Alexander Askoldows Film «Die Kommissarin» (1967) war zwanzig Jahre lang verboten. Die Thematisierung jüdischen Lebens und Sterbens sowie die unorthodoxe Darstellung der Bürgerkriegszeit passten nicht ins sowjetische Geschichtsnarrativ. Die Regisseurin Yuri Birte Anderson und der Geschichtsprofessor Gleb Albert führen gemeinsam in den Film und seine Rezeptionsgeschichte ein.
Der Film erzählt die Geschichte von Klawdija Wawilowa, einer hartgesottenen Kommissarin der Roten Armee, die während des sowjetisch-polnischen Krieges 1920 unerwartet schwanger wird. Für die Geburt wird sie beurlaubt. Bei der kinderreichen Familie eines jüdischen Handwerkers kommt sie in einem requirierten Zimmer unter. Hier wird sie mit neuen Erfahrungen konfrontiert – mit Geburt und Mutterschaft; und mit dem Leben einer jüdischen Familie, welche die Umwälzungen der Russischen Revolution und des Bürgerkriegs aus einer anderen Perspektive wahrnimmt. Die Familie leidet unter dem seit 1914 fast ununterbrochenen Kriegszustand und lebt in ständiger Angst vor antijüdischen Pogromen.
Askoldows «Die Kommissarin» basiert auf der Kurzgeschichte «In der Stadt Berditschew» von Wassili Grossman, dem Kriegsschriftsteller und späteren Regimekritiker. Die Geschichte erschien 1934, als sich die stalinistische Literaturpolitik mit ihrer Doktrin des „sozialistischen Realismus“ gerade erst etabliert hatte. Grossmans Erzählung passte mit ihrer Absage an das Plakativ-Heroische, mit ihren leisen Zwischentönen, mit ihrer Fokussierung auf das zivile Leiden im Krieg nicht zu den kanonisierten Erzählweisen über die Bürgerkriegs-Epoche. In Grossmans Erzählung wurden Sujets angesprochen, die schon wenige Jahre später tabuisiert sein sollten – wie etwa die schon zwei Jahre nach Erscheinen der Erzählung verbotenen Abtreibungen. Es ist also nicht verwunderlich, dass der literarische Stoff erst in der Zeit nach Stalin seinen Weg auf die Leinwand finden konnte. Askoldows Interpretation von Grossmans Vorlage sollte aber auch noch für die Sowjetunion der späten 1960er Jahre inakzeptabel sein.
Askoldow erklärte in späteren Interviews, dass ihm die Verfilmung der Geschichte eine Herzensangelegenheit war. Als seine Eltern – der Vater selbst ein einst gefeierter Bürgerkriegsheld – 1937 im Grossen Terror verhaftet wurden, war es eine jüdische Familie, die den Fünfjährigen aufnahm und versteckte, bis Verwandte ihn aufspüren und abholen konnten. Nach dem Krieg kehrte Askoldow nach Kiew zurück und erfuhr, dass die Familie, die ihn gerettet hatte, von den Deutschen im Massaker von Babi Jar ausgelöscht worden war. Das Judentum spielt in dem Film eine zentrale Rolle, und das im Jahr des Sechstagekriegs, der den staatlich geförderten Antisemitismus befeuerte. Vor allem aber – und hier geht Askoldows Film über die Vorlage hinaus – wird die Leidensgeschichte der Juden im Russischen Bürgerkrieg als Vorahnung der bevorstehenden, ungleich grösseren Katastrophe gerahmt.
In einer Schlüsselszene des Films sieht Wawilowa ihre Gastgeber vor ihrem geistigen Auge mit gelben Sternen an der Kleidung durch die Tore eines Konzentrationslagers treten. Eine so explizite Thematisierung des Holocaust als jüdische Katastrophe war im sowjetischen Nachkriegs-Erinnerungsdiskurs tabu. An die Opfer der deutschen Vernichtungsmaschinerie sollte nur als «Sowjetbürger», nicht jedoch als Juden erinnert werden. Beteiligten Schauspielern zufolge war es genau diese Szene, auf die Askoldow nicht zu verzichten bereit war und die das Schicksal seines Films besiegelte.
«Heroische» Männerrollen hält der Film keine parat. Die männlichen Protagonisten entpuppen sich vielmehr als nutzlose Gestalten. Der Kindsvater stirbt im Gefecht und lässt seine Gefährtin allein, der Chef des Bataillons ist gut genug, Urlaubsscheine auszustellen, aber es ist die Protagonistin, die die Männer in die Schlacht führt, mit Deserteuren abrechnet, Härte zeigt und Todesurteile ausspricht. In der jüdischen Familie ist es die Mutter, welche die Fäden in der Hand hält. So gesehen ist der Film nicht bloss eine eindringliche und für die späten 1960er Jahre unzeitgemässe Annäherung an ostjüdische Geschichte und antijüdische Gewalt. Er ist auch ein Beitrag zur Debatte um unterschiedliche weibliche Lebensentwürfe, um Geschlechterrollen und ihre Vereinbarkeit. Zusammen mit seiner einfühlsamen Darstellung jüdischen Lebens ist der Film zweifellos eine subversive Hommage an die Marginalisierten.
Die Regisseurin Yuri Birte Anderson und der Historiker Gleb Albert führen gemeinsam in den Film und seine Rezeptionsgeschichte ein. Anderson ist Regisseurin am International Laboratory Ensemble und arbeitet mit dem Theaterlabor Bielefeld zusammen. Albert ist Assistenzprofessor für Neueste Allgemeine und Osteuropäische Geschichte an der Universität Luzern. Für «royalscandalcinema» hat er 2024 bereits Alexei Utschitels «Matilda» eingeführt.